~Kapitel 10 & 11

Zurück zu Kapitel 8 & 9

„Ich möchte neu anfangen!“ Ich erschrak als ich meinen Gedanken laut aus meinem Mund hörte. Dennoch löste er ein Lächeln auf meinem Gesicht aus. Die Verwirrung, die ich durch den Entschluss meines Vaters, entstanden war, verschwand. Eine Idee formte sich in meinem Kopf, immer greifbarer, immer wundervoller, bis sie zu einer Wahrheit wurde an der ich festhalten würde. Etwas bei dem mich niemand mehr aufhalten konnte! Vor wenigen Sekunden hätte ich noch weinen können, doch jetzt könnte ich Luftsprünge machen. Wunderbar! Fantastisch!

Euphorie machte sich in mir breit und ließ meine Wangen vor Aufregung glühen. Ich musste ihn suchen gehen! Ich musste ihm sagen was ich vorhatte!

Ich war einige Schritte gelaufen, als mir wieder einfiel, dass er mehr als nur wütend auf mich war. Ein gerissenes Lächeln zog sich über meine Lippen. Ich würde ihn schon noch überreden mit mir zu fliehen. Ich würde ihn sogar zwingen und erpressen wenn es notwendig wäre! Egal was es kosten würde! Ich werde mit ihm glücklich werden!

Denn ich konnte niemanden anderen an meiner Seite akzeptieren als Touma!

Mir wurde schlecht.

Langsam drehte sich sein Kopf in meine Richtung. Er musterte mich. Ich verbarg mein Gesicht in meinen Händen und würgte. Der imaginäre Kloß der seit meinem Erwachen in meiner Brust steckte, hatte sich vergrößert. Er war nicht mehr das was er vorher war – das Wissen meine Erinnerungen verloren zu haben. Das war er nie gewesen. Er war schon immer das Wissen etwas Unverzeihliches getan zu haben.

Ich habe schon immer versucht ihn herunterzuschlucken. Ihn zu ignorieren und von mir zu schieben. Aber nie war er ganz verschwunden. Ich erinnerte mich wie schwer es war meine Verzweiflung ihm gegenüber zu verstecken. Immer wurde es schlimmer,  je öfter ich die Starke spielte.

„Ich habe ihn belogen.“

Meine eigene Stimme klagte mich in meinen Gedanken an.

Durch eine einzige Lüge folgte ein ganzes Geflecht von Lügen. Wie ein Spinnennetz, aus der die Fliege nicht mehr entkam. Ich konnte mich nicht einmal mehr an die erste Lüge erinnern.

Ich hatte mir mein eigenes Verderben gesponnen.

Mehr noch. Ich habe mich auch selbst belogen.

Szenen in denen ich versucht hatte ihm aus dem Weg zu gehen, ihn aber nicht loslassen wollte. Szenen in denen ich ihm schlimme Worte an den Kopf warf, obwohl ich sie niemals aussprechen wollte. Und Szenen ihn denen ich ihn schlug, obwohl ich nichts lieber getan hätte als ihn zu umarmen.

All das strömte in meinen Kopf und blieb. Blieb schmerzhaft wo sie schon immer gewesen waren.

„Lass uns gehen Yuzuna.“ Seine Stimme war wie Balsam für meine gepeinigte Seele. „Dein Vater wartet auf dich.“

Ich hatte den Unterschied bemerkt und sah ihn erschrocken an. „Mich?“ fragte ich leise. Ich erinnere mich noch genau an seine gestrigen Worte: „Man erwartet uns zu Hause.“ Er hatte immer uns beide gemeint.

Erst reagierte er nicht, doch dann schien ihn die Frage erreicht zu haben. Ein kurzes höhnisches Lachen ertönte. „Tut mir leid, ich dachte du hättest dich schon daran erinnert.“

Ich fühlte mich immer unwohler je länger er mich ansah. Ich hatte ja keine Ahnung, dass das elende Gefühl sich noch verstärken konnte.

Meine Gedanken rasten. An was hätte ich mich erinnern sollen?

„Ich werde nicht mit dir zurückkehren. Wegen dir, kann ich das nie wieder.“

Mir wurde eisig kalt. „Aber du bist mein Mann!“ ich schrie es fast hinaus. Meine Stimme voller Verzweiflung und Schuld.

„Glaubst du das noch immer?“ fragte er spöttisch. Sein Gesicht war wieder durch eine kalte, undurchdringliche Maske verdeckt. Er war so gut darin, all seine Emotionen dahinter zu verbergen.

Touma kehrte mir den Rücken zu und ging zum Pferd.

„Ich war nie dein Ehemann und werde es auch niemals sein, Yuzuna.“


Wie lange ich im Sattel saß konnte ich nicht sagen. Die Landschaft glitt still an mir vorbei, als würde sie sich bewegen und nicht ich.

Ich war wie eine Tonfigur deren Inneres in Scherben lag. Alles woran ich geglaubt hatte wurde mit nur einem Wimpernschlag ausgelöscht. Wo war der Schmerz, den ich fühlen müsste? Nicht einmal an ihn konnte ich mich mehr festhalten. Ich fühlte nichts mehr. Nicht den Wind, nicht das Pferd unter mir, nicht Toumas Arme zwischen denen ich saß.

Mein Kopf war leer.

Es war fast als sei ich wieder in meinem Körper gefangen. Nur dieses Mal schloss ich mich selbst darin ein. Ich versuchte meine Existenz zu verleugnen, in der Hoffnung einfach zu verschwinden. Doch es wollte mir nicht gelingen. Meine Konzentration ließ nach und ein einzelner Gedanke stahl sich aus meiner erstarrten Seele.

Lügner.

Ich wollte keine Erinnerungen mehr hervorrufen, doch das hatte ich nicht zu entscheiden.

Lügner, Lügner, Lügner! Schrie ich in meinen Gedanken. Meine flache Hand traf auf sein Gesicht und hinterließ einen glühenden Abdruck. So glühend wie meine Wut. „Geh mir aus den Augen!“ sagte ich kalt. „Ich werde sie nicht verschonen nur weil du dich aufspielst wie ihr Bruder.“ Ich spuckte die Worte fauchend aus. Ich wandte ihm den Rücken zu und wollte gehen, als ich hörte wie er auf die Knie fiel. Wie aus Reflex drehte ich mich wieder um. Da kniete er, seine Stirn berührte fast den Boden. Es überraschte mich, dass er das getan hatte. Aber mehr als das Gefühl der Überraschung wallte Zorn und Eifersucht in mir auf. Wie konnte er es wagen? „Ich bitte euch Shirokawa-hime! Lasst sie gehen! Ich werde für den Schaden den sich verursacht hat aufkommen!“ Ich konnte nicht anders als kurz und gehässig aufzulachen. Wenn er nur wüsste was sie getan hatte! „Wie willst DU das denn bitte fertig bringen? Deine Einkünfte werden niemals ausreichen!“ Die Worte waren aus mir herausgerutscht als seien sie glitschige Fische die mir durch die Finger glitten. Kaum hatte ich sie ausgesprochen tat es mir leid ihn dermaßen gedemütigt zu haben, doch es gab kein zurück mehr. Sie musste bestraft werden für das was sie mir angetan hatte. Für das was sie dem Clan angetan hatte. „Ich flehe euch an! Ich werde alles dafür tun! Bitte nehmt mein Leben für das ihre!“ Er war bereit sein Leben für sie zu opfern? Ich fühlte wie etwas in mir zu zerbrechen drohte. Meine Hände ballten sich schmerzhaft zu Fäusten. Ich musste stark sein! „Wie erbärmlich! Ich dachte immer du seist zu stolz, um mich dermaßen anzubetteln.“ Meine Stimme zitterte leicht und ich hoffte, dass er es nicht bemerkt hatte. Ich ging auf ihn zu und blieb wenige Schritte neben dem Häufchen Elend stehen. Wenn er den Kopf heben würde, würde er sehen wer erbärmlicher war, also sagte ich so gefühllos und arrogant wie nur möglich:

„Dein Leben gehört mir, Akato Touma.“

Ich war nicht stark genug um ihn fortzuschicken. Stattdessen wollte ich, dass er bei mir blieb und mich hasste.

Denn ich war die Prinzessin des Shirokawa-Clans und Touma mein Beschützer. Egal wie sehr ich ihn auch lieben würde, er hatte Recht. Niemals würde er mein Ehemann werden. Nicht einmal wenn auch er mich lieben würde. Dessen war ich mir schon immer bewusst gewesen.

Ich wollte ihn so lange an meiner Seite haben bis ich bereit war ihn loszulassen.

Wie egoistisch von mir.

Langsam begannen sich meine Erinnerungsbruchstücke in die richtige Reihenfolge einzugliedern, wie Perlen an einer Kette. Dennoch waren sie noch sehr lückenhaft und ich erkannte den Zusammenhang kaum.

Die Frau die er versuchte zu beschützen. Ich kannte sie. Und ich wusste mehr über sie als er. Ich hatte ihm etwas über sie verschwiegen. Und dieses Verschweigen war der Anfang aller Lügen.

Ich zerbrach mir fast den Kopf darüber. Doch kein weiterer Splitter wollte zurückkehren. Die Lücke blieb leer, wie ein Stück verbrannte Erde in meinem Gedächtnis.

„Es tut mir leid, dass ich dich belogen habe.“ Leise drangen seine Worte in mein Bewusstsein ein.

Lange Zeit erwiderte ich nichts. „Ich habe es verdient.“ Es war nicht schlimm. Denn mein Herz war schon lange Zeit gebrochen gewesen. Ich hatte nur vergessen wie weh es tat, nicht von der Person geliebt zu werden die man mehr liebte als alles andere.

 

Die Lederzügel in seinen Händen quietschten. Er hielt sie so fest, sodass ich das Weiß seiner Knöcheln deutlich sehen konnte.

 

„Mach dir keine Sorgen. Nichts von all dem werde ich meinem Vater erzählen.“ Mein Herz wurde schwer. „Nichts was ich dir angedroht habe, wird geschehen. Ich weiß nicht mehr womit ich dich gezwungen habe mit mir wegzulaufen… aber egal was es war. Ich werde es nicht tun.“ Ich hoffte, dass er mir glaubte und mir verzeihen konnte. – Irgendwie.

Weiter zu Kapitel 12