Die Menschen um sie herum waren ausgelassen und scherzten, lachten, tranken und aßen gemeinsam. Es war laut, aber noch lauter war das Rauschen der Blätter im kühlen Frühlingswind. Wie hellrosa Schnee fielen die Kirschblüten auf die Feiernden nieder. All die zierlichen Blumen auf den dunklen Ästen der Bäume, würden schon bald auf dem Boden liegen, doch noch konnte man sich an ihrer vergänglichen Pracht erfreuen.
Ihr rotes Kleid wehte im Einklang mit dem Wind. Wippte auf und ab, mit jedem Sprung den sie machte. Etwas abseits der Kirschbäume und der Menschen, die mit ihren Familien und Freunden feierten, war es ruhiger. Das Glucksen des Baches beruhigte die Seele und schenkte eine Art von Frieden, die nur die Natur hervorzurufen vermochte. Der Hang war so steil, dass dort niemand seine blaue Plane ausgebreitet hatte, um die Kirschblüten von weitem zu betrachten und gleichzeitig die Ruhe des Baches zu genießen.
Angezogen von der Magie des Ortes lief sie vorsichtig hinunter. Das Gras war noch feucht vom Regen und die Luft roch frisch und sauber nach Frühling. Sie war mit ihren schwarzen Lackschühchen abgerutscht und stolperte auf einen Steg. Ein schriller Schrei durchschnitt die Ruhe, verklang aber genauso schnell wieder, wie er gekommen war. Das Holz unter ihren Füßen war trocken und sie fragte sich gerade, wie das sein konnte, wenn der Regen doch gestern erst alles benetzt hatte.
Ein Mann stand unweit von ihr. Seine Erscheinung war eigenartig. Er trug eine Mütze, wie die Ordnungshüter in der Stadt. Auch seine Uniform erinnerte sie an die Polizisten in Tokyo. Die Farbe jedoch, war nicht dunkelblau, sondern grau. Ein solches Grau hatte das Mädchen noch nie gesehen, denn es schien all die Farbe in seiner Umgebung abzustoßen.
Sie passte nicht in diese Welt.
Nicht zum Frühling.
Doch noch befremdlicher war, dass der Mann mit seinen behandschuhten Händen eine Angel hielt, dessen Schnur im Bach endete.
Sie wusste genau, dass in diesem seichten Bach kein Fisch zu fangen war. Sie war oft hier um zu spielen und nie hatte sie auch nur einen Fisch gesehen. Auch fiel ihr plötzlich ein, dass sie diesen Steg noch nie bemerkt hatte.
„Was tun sie da, Oji-san*?“ fragte sie mit ihrer kindlichen Unbekümmertheit.
„Ich fische.“ Antwortete er ohne seinen Blick vom Bach abzuwenden.
„Hier gibt es keine Fische, Oji-san. Ich muss es wissen, denn ich bin hier ganz oft!“ ein wenig Stolz lag in ihrer Stimme und sie sah den grauen Mann mit leuchtenden Augen an.
„Ich fische keine Fische, Kleines.“ Sie hörte das Lächeln in seiner Stimme, konnte aber keines auf seinem Gesicht erkennen. „Eeeeh? Keine Fische? Was fischst du dann?“ Sie war so neugierig, dass sie sogar vergaß die höfliche Anrede anzuwenden. Vorsichtig beugte sie sich vor und versuchte den Haken am Ende der Schnur auszumachen. Doch das einzige was sie sehen konnte, war das verschwommene rote Spiegelbild ihres Kleides.
„Ich fische die Träume der Menschen.“ Sagte er langsam. „Sieh!“ Erstaunt über seine Antwort richtete sie ihren Blick wieder dem grauen Mann zu.
Er zog die Leine aus dem Wasser.
Dort war kein Haken. Nur ein blaudurchsichtiger runder Gegenstand der aussah wie ein großer Tropfen Wasser. Entweder spiegelte sich das Licht darin nur sehr stark, dass es aussah als sei es flüssig, oder es handelte sich tatsächlich um Wasser, welches irgendwie an Festigkeit gewonnen hatte, um an der Schnur befestigt zu werden. Doch nicht nur dieser seltsame Stein hing am Ende der Angel.
An ihm klebten eine Kirschblüte und zwei Blütenblätter.
„Ah! Sieh nur wie wundervoll!“ Vorsichtig nahm er seinen Fang vom Stein. Das Mädchen im roten Kleid lief näher zu ihm, um sich alles genauer anzusehen.
„Das ist doch nur eine Blume.“ Sie sagte es ganz sachlich und betrachtete die Blüte in seiner Hand. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt seinen Worten.
„Nein, Kleines. Das ist ein vollständiger Traum.“ „Hm?“ sie sah ihn an, doch der Schatten den seine Mütze warf, verdeckte sein Gesicht.
„Dies hier, ist der unschuldige Traum eines Menschen. Seine Wünsche und Sehnsüchte sind darin.“ Er deutete auf die einzelnen Blütenblätter die er ebenfalls aus dem Bach gefischt hatte. „Und diese hier sind Teile eines ganzen Traumes.“ Er machte eine Pause in seiner Erklärung und das Mädchen konnte fühlen, dass der Mann ein warmes Lächeln auf seinen Lippen trug.
„Wenn die Träume in dieser Form zu finden sind, bedeutet das, dass der Mensch höchstwahrscheinlich einen Teil seines Traumes erfüllt hat. Manchmal aber bedeutet es, dass ein Teil davon zerstört wurde.“ Er zog einen Lackbehälter aus seiner Jackentasche und legte die zarte Blume und die beiden Blütenblätter behutsam hinein. Die Box war genauso rot wie das Kleid des Mädchens und nicht sehr groß, aber sie konnte sehen, dass bereits viele einzelne Blätter darin Platz gefunden hatten.
„Warum fischst du Träume, Oji-san?“
„Na, weil die Menschen ihre Träume sonst ganz vergessen. Ich bewahre sie auf, bis sie sich erfüllen. Denn Menschen ohne Träume sind wie leere Puppen.“
„Aber da sind so viele! Wie kannst du sie alle retten?“ Das Mädchen deutete aufgeregt in Richtung der Kirschbäume unter denen ihre Eltern, Verwandte und Freunde saßen und nicht ahnten, dass ihre Träume womöglich verschwinden würden und nichts als Leere hinterließen, wenn der graue Mann sie nicht herausfischte.
Der Mann nickte langsam. „Ja, ich kann sie nicht alle retten.“ Seine Stimme hörte sich einsam und traurig an. Doch dann wandte er sich wieder dem Mädchen zu. „Keine Sorge, Liebes. Die Menschen verlernen das Träumen nicht so schnell. Verschwindet ein Traum erwächst ein neuer Traum heraus. Dennoch ist es sehr sehr wichtig, seine Träume zu verfolgen, denn wenn Träume immer nur zerstört werden, dann kann mir selbst die Hoffnung irgendwann nicht mehr helfen.“ Er ließ den flüssig glänzenden Stein vor ihrem Gesicht baumeln.
„Mit Hoffnung rettest du die Träume der Menschen?“
Er nickte und ließ die Hoffnung wieder ins Wasser gleiten.
„Wie kann ich dir helfen? Ich will nicht, dass meine Eltern oder irgendjemand anderes zu leeren Puppen werden!“ sie hatte die Hände zu Fäusten geballt. Voller Entschlossenheit sah sie den Mann an.
„Das ist einfach. Hilf den Menschen an ihren Träumen festzuhalten. Du kannst das, ich weiß es.“ Er drehte seinen Kopf wieder dem Mädchen zu. „Und halte an deinen fest.“ Sie wusste, dass er wieder breit lächelte denn seine Stimme verriet seine Heiterkeit. „Dann habe ich hier weniger zu tun.“
„Dann kann ich also auch Kirschblüten sammeln, so wie du?“ Ihre Augen leuchteten.
„Nein, Kleines. Du bist ein Mensch. Du wirst etwas Schöneres sammeln als Blüten.“
„Was?“ fragte sie aufgeregt.
„Freude.“